Kritik – Seite 6 – Jazzclub Biberach e.V.

20.01.2023: Rolf Richie Golz Trio

Rolf Richie Golz Trio im ausverkauften Jazzkeller

Fulminanter Start in die Heimattage-Reihe des Jazzclubs

Ein fulminantes Konzert im Rahmen der Heimattage 2023 bescherte vor ausverkauftem Saal das Trio des Biberacher Urgesteins und Ausnahmepianisten Rolf Richie Golz. Zusammen mit seinen beiden Mitstreitern Gero Gellert am E-Bass und Matthias Daneck am Schlagzeug – beide auch mit Biberacher Wurzeln – startete die Band nach einer launigen Einführung des Bandleaders mit dem Song „Little Moment“ gleich so richtig durch, um die zunächst spürbare Anspannung auf der Bühne zu vertreiben und mit Romantic Jazz at its best und einem virtuos gespielten Bass-Solo schon nach wenigen Minuten den ersten Szenenapplaus des Publikums einzuheimsen. Weiter gings mit „Crazy man“ (wie schon die erste Nummer und die meisten noch folgenden eine Komposition von Golz), in welcher sich das Trio dann schon sehr eingegroovt präsentierte und mit Genuss ein wenig Kakofonie und Anleihen am Free Jazz zelebrierte. Ausnahme-Drummer Daneck zog hier schon mal alle Register der Trommel- und Beckenbearbeitung und es wurden sämtliche Facetten der Dynamik aufgegriffen. Rasend schnelle Unisono-Läufe, welche alle auf dem Punkt endeten, ließen schon jetzt die Stimmung im Saal erheblich ansteigen. Die dritte Nummer wurde von Golz als „Heimatlied“ angekündigt. Die Idee zu „Nowhere“ kam ihm beim Spaziergang bei Ampfelbronn (oder wie der Schwabe sagt: im „Ogreachata“). Auch hier dann wieder der sehr spannende musikalische Kontrast zwischen laut und leise, harmonisch und dissonant, adagio und allegro, sparsam und volles Register. Mit „Summer in Norway“ gelang dem Trio ein gelungenes akustisches Bild der skandinavischen Landschaft und bei geschlossenen Augen konnte man die Fjorde regelrecht an sich vorbeiziehen sehen. Die mit allen Wassern gewaschenen Instrumentalisten vermochten – wie bei allen Stücken eigentlich – aus der Minimalbesetzung der Combo ein Maximum an Ausdruck aus sich herauszuholen. Der „Tanz in den Mai“, von Gellert komponiert, begann mit einem starken Bass-Solo, dezent mit Hall verfeinert und ebenfalls einen Kontrast zum Trio-Spiel setzend. „The Chance“, eine ältere Komposition von Golz aus den 80ern bot den Zuhöhrern feinstes Zuspielen von Melodiefragmenten zwischen Bass und Piano und mit „Jazzy Chocolate“ ging es beschwingt à la Sonny Rollins in die Pause.

Mit dem gleichnamigen Stück, inspiriert vom französischen Pyrenäendorf namens „Estialescq“ wurden dann kongenial wieder musikalische Bilder erzeugt, die einen sofort in die Berglandschaft zwischen Frankreich und Spanien versetzten und gelegentlich klang hier der großartige Lyle Mays durch. Beim Umschreiben der „schwäbischen Mentalität“ kam Golz die Idee zu „However“, welches pianistisch auch stark an Bruce Hornsby einnerte. Sehr emotional wurde es bei „Song for my Father“. Hier konnte Gellert einmal mehr den warmen und weichen Klang seines Höfner-Basses sehr nah an den Sound eines Fretless-Bass bringen. Das – fast schon obligatorische – Schlagzeugsolo wurde dann in die nächste Kompositon „Dance with the Eleven Eights“ integriert. Einmal mehr zeigte Daneck auf Weltklasseniveau (er spielt nicht umsonst seit Jahren in der Band von Ute Lemper) seine Mühelosigkeit bei der Meisterung dieser rhythmisch (11/8tel) äußerst anspruchsvollen Hürde. Louis Bellson, Gene Krupa & Co. hätten ihre wahre Freude daran gehabt. Die einzige Komposition aus der Feder von Daneck war dann „What without the beauty within“, die einen ungewöhnlichen Mix aus Bossa, House und Romantic Jazz mit Nuancen von Klassik zum Erklingen brachte.

„Seven dreams“ als erste Zugabe, sowie danach noch „My Song“ (comp. Keith Jarrett) als „Rausschmeißer“ ließen nach minutenlang anhaltendem Applaus den Abend im Jazzkeller für alle Beteiligten sehr gelungen enden. Da das Konzert in Bild und Ton aufgezeichnet wurde, darf man sich als Zuhörer schon jetzt auf eine Veröffentlichung dieser Performance freuen.

(Nachbericht von Peter Zoufal, Fotos von Wolfgang Volz)

02.12.2022: Barbara Jungfer Trio

Barbara Jungfer Trio mit „Jazz goes Folk – Folk goes Jazz“

Querfeldein durch die deutsche Volksliederlandschaft

BIBERACH – Mit einer edlen, in Jazz und Rock gleichermaßen angesagten Deimel-Gitarre aus deutscher Produktion, gelegentlich auch rockig mit Verzerrer gespielt, sowie mit einem ebenso angesagten Fender-Röhrenverstärker gastierte die blondgelockte, in München lebende „Berliner Göre“, die schon in Klaus Doldingers (Tatort-Titelmelodie, Das Boot) legendärer Band „Passport“ mitgewirkt und Tourneen um die ganze Welt gespielt hat, im Biberacher Jazzkeller.  Die renommierte Jazzgitarristin, die den Blues gewissermaßen im Blut hat und die im urbanen, multikulturellen Hexenkessel der Großstadt zuhause ist, überraschte – mit bodenständigen deutschen Volksweisen. Der Brückenschlag zwischen den deutschen Volksliedern und dem Jazz überzeugte jedoch rundum, setzte ganz neue Energien frei und stieß beim Biberacher Publikum auf große Resonanz. Zum einhelligen Bedauern der Musikerin und ihrer zahlreichen neuen Fans kommt die neu produzierte CD „Folksongs“ leider erst Anfang nächsten Jahres auf den Markt.

Ein konzertanter Besuch im Senegal vor vielen Jahren, bei dem die afrikanischen Zuhörer sich auch nach deutscher Folklore erkundigten, ließ nach Jungfers Worten spontan eine erste Improvisation über ein deutsches Volkslied entstehen und wurde damit zur Initialzündung für das aktuelle Projekt. Die bekannten Melodien im Ohr, hatte das konzentriert lauschende Publikum meist wenig Mühe, die jeweilige Vorlage zu erkennen. Umso interessanter war es, die musikalische Verarbeitung der alten Ohrwürmer zu verfolgen. Blues- und jazztypisch rhythmisiert, ungewöhnlich phrasiert, harmonisch verfremdet und klanglich aufbereitet, entfalteten die altbekannten Melodien einen ganz neuen Reiz, wirkten frisch und unverbraucht. „Die Gedanken sind frei“, lautete der erste Titel und erwies sich als Leitlinie für das folgende Programm. Im Verlassen eingefahrener Bahnen, im Neudenken der Tradition liegt die eigentliche Freiheit und gerade die Freiheit im Umgang mit seinen Sujets ist auch der Markenkern des Jazz. Das Motto der Projektes: Jazz goes Folk, Folk goes Jazz wurde damit unmittelbar sinnfällig.

Einen durchaus willkommenen Gegenakzent setzten die eingestreuten, ebenfalls durch einprägsame Melodien durchzogenen Eigenkompositionen der Bandleaderin. Ohne konzentriert auf das Erkennen folkloristische Wurzeln achten zu müssen, konnten sich die Zuhörer mit geschlossenen Augen entspannt zurücklehnen und auf den Schwingen von Barbara Jungfer in exotische Gefilde entschweben. Der Einsatz von charakteristischen Folklore-Instrumenten wie Rahmentrommel, Maultrommel oder auch Kuhglocke durch den quirligen Jazzdrummer Stefan Noelle etwa in der Eigenkomposition „Alpenklang“ sorgten auch in diesem Fall für das folkloristische Kolorit und den Programmzusammenhalt.

Sonor groovend am Kontrabass war die Stuttgarter Karoline Höfler nicht nur für das harmonische Fundament des Trios zuständig. In ausgedehnten Improvisationen, oft auch im Dialog mit Barbara Jungfer, übernahm sie durchaus auch melodische Aufgaben. Besonders stimmungsvoll geriet dabei etwa die im Flageolett in hoher Lage gespielte Melodie von „Der Mond ist aufgegangen“. Durchaus melodisch spielte aber auch der Münchner Stefan Noelle am erweiterten Schlagwerk. Fein aufeinander abgestimmte Becken, oft auch tonmalerisch eingesetzt, eine auf den Kontrabass und die jeweilige Tonart eingestimmte Rahmentrommel und generell eine, die Struktur der Stücke akzentuierende, meist dezent energisierende Spielweise gingen weit über eine bloße Rhythmusbegleitung hinaus und fügte sich organisch ins Bandkonzept.

Bereits in „Tubi Fish“, der ersten von insgesamt drei, teilweise frei improvisierten Zugaben, ließen die drei Künstler ihrer Spielfreude ungebremsten Lauf und die Stimmung kulminieren. Gerne hätte man dieser Wohlfühlmusik auch noch länger gelauscht.

Text und Fotos: Helmut Schönecker

26.11.2022: Beppe Gambetta

Wahre Liebe rostet nicht

Beppe Gambetta zum Heimspiel im Jazzkeller

BIBERACH – Seit über zehn Jahren ist der Genueser Flatpicking-Gitarrist oder neuhochdeutsch „Singer/Songwriter“ Beppe Gambetta in Biberach und Umgebung eine feste Hausnummer. Dementsprechend gut gefüllt war der Jazzkeller bei dem von Jazzclub und Musiknachtverein gemeinsam organisierten Konzert am Samstagabend. Der in New Jersey lebende Künstler mit den italienischen Wurzeln hat sich, tatkräftig unterstützt durch den Warthausener Hans Bernd Sick, einen großen und treuen Fankreis in der Region erschlossen. Dafür und für dessen „völkerverbindende Aktivitäten“ im Allgemeinen sprach ihm Gambetta am Ende des Konzertes seinen herzlichen Dank aus. Nach der pandemiebedingten zweijährigen Unterbrechung nahezu aller kulturellen Liveaktivitäten konnte Gambetta jetzt mit einem neuen, hochinteressanten und unterhaltsamen, von ihm selbst launig moderierten Programm aufwarten.

Der Flatpicking-Meister Gambetta, in den Fußstapfen des legendären Doc Watson, von dem er auch musikalisch inspiriert wurde, mit dem er eng befreundet war und zu dessen Beerdigung er auch spielen durfte, machte seinem Vorbild alle Ehre. Nicht nur sein neues Buch über die Wurzeln des „Flatpicking-Spiels“, das er in vorweihnachtlicher Voraussicht wärmstens anpries, auch die mitgebrachte neue CD „Where The Wind Blows“ oder „Dove Tia O Vento“, aus der auch ein Großteil des Programms gespeist wurde, dürfte in der Fachwelt ein Meilenstein des Flatpicking werden.

Aber beim virtuosen Gitarrenspiel hört das Phänomen „Beppe Gambetta“ noch längst nicht auf. Eine ausdrucksvolle und vielseitige Singstimme, stilistisch offene Kompositionen aus der Welt- oder Independent-Musikszene, oft auch kurz „Indie“ genannt, ein begnadeter Conférencier und Geschichtenerzähler und gleichzeitig ein freundlicher, umgänglicher, hoch gebildeter Zeitgenosse verbirgt sich hinter dem Namen. Gambetta ist ein hochsensibler Künstler, der persönlich tiefen Anteil nimmt an den derzeit leider wenig erfreulichen Entwicklungen in der Welt. Und genau dies spiegeln auch seine Stücke wieder, genau dies lässt sie authentisch und bedeutungsvoll wirken, erhebt sie über gewöhnlichen Indie-Pop.

Vor wenigen Tagen erst spielte er während seiner mehrwöchigen Europatournee in der Schillerstadt Marbach. Seine Komposition „Amica Libertà“ offenbarte dort, wie er selbst bekannte, in besonderem Maße ihre tiefere Bedeutung. Friedrich Schiller und allen von Gewalt und Krieg bedrängten Menschen hatte er diese Komposition gewidmet. Auf Schillers Zitat „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“ und damit auf die Freiheit der Kunst von materiellen und vor allem auch politischen Zwängen hat er sich in diesem Titel wie in dem „Independent“ genannten Musikstil explizit bezogen. Die genreübergreifende Mischung aus neu arrangierten, italienischen oder amerikanischen Volksweisen und brandneuen Eigenkompositionen mit Gegenwartsbezug, diverse Assoziationen wie im Song „Wise old man“, im Titelsong der CD „Dove Tio O Vento“ (Wo der Wind uns hinbläst), im traurigen „Lamento“ (Klagelied) oder auch in dem elegischen Abgesang auf „La musica nostra“, verweisen auf einen gereiften Personalstil, auf eine gewisse Abgeklärtheit oder Altersweisheit des lebenserfahrenen Künstlers aber auch auf einen möglichen, von Kunst und Kultur geleiteten Ausweg aus der tristen Gegenwart.

Die fruchtbare Zusammenarbeit mit seinem elektronischen Helferlein „Gino“, welches ihm, mit dem Fußschalter bedient, erst den Weg in eine komplexe Mehrschichtigkeit und zu ausgedehnten, selbstbegleiteten Soloimprovisationen ermöglichte, ließ dichte, wohlklingende, durch die mitgebrachte Soundanlage veredelte Klangpreziosen entstehen. Gleich drei Zugaben brauchte es um das enthusiastische Publikum zufrieden zu stellen, die Stücke und ihre Botschaften dürften noch lange nachwirken.

Text und Fotos: Dr. Helmut Schönecker

25.11.2022: LBT (Support: Daktylus Jazz Utopia)

Konzertkooperation: „Daktylus Jazz Utopia“ als Support von „LBT“

Psychedelic Revival – Zurück in die Zukunft

BIBERACH – Als Vorband für das Konzert mit dem renommierten Leo Betzl Trio, als Kooperation zwischen dem Verein Lilienthal und dem Jazzclub Biberach, in der Kulturhalle Abdera angetreten, konnte die lokale Formation „Daktylus Jazz Utopia“ bereits eine stattliche Besucherzahl begrüßen und begeistern. Für die älteren Jahrgänge unter den Besuchern war ihre Musik ein „Flashback“ in die 60er und 70er Jahre, als Bandnamen wie „Pink Floyd“, „The Doors“ oder „Deep Purple“ und Musiker wie Jimi Hendrix, Jim Morrison oder Janis Joplin für die Anfänge psychedelischer Rockmusik standen. Der experimentelle Umgang mit dem Sound und zunehmend komplexere Songstrukturen im Rock waren damals neuartig. Ausgedehnte Soloimprovisationen, der freie Umgang mit den Formen und die Besetzung des Orgeltrios aus Hammond-Orgel, Gitarre und Schlagzeug verweisen auf die Wurzeln im Jazz. Oft auch durch Drogen inspiriert, sollte der Horizont erweitert und der Weg in transzendente Sphären gebahnt werden. Woodstock und die Anfänge des legendären Club 27 fallen in diese Zeit. Andi Schnell an der E-Gitarre, Bernward Schäfer an der elektronischen Orgel und Lazzaro Locher am Schlagzeug machten ihre Sache nicht nur handwerklich ganz ordentlich. Spirit und Sound stimmten, die Coverversionen – etwa von Jimi Hendrix aber auch die Eigenkompositionen von Bernward Schäfer heizten dem Publikum bereits kräftig ein. Als Andi Schnell in typischer Hendrix-Manier während eines ausgedehnten, virtuosen Gitarrensolos die Gitarre hochnahm und zärtlich mit der Zunge liebkoste schlugen die Wogen der Begeisterung hoch. Der Begriff „Utopia“ im Bandnamen wird jedoch noch mit Leben und neuen Ideen zu füllen sein. Bisher klingt er noch stark nach „Revival“.

LBT – Leo Betzl Trio – Jazz meets Techno meets Jazz

Gleichförmigkeit und Mechanik im computergenerierten Techno aufzubrechen und mit der Idee des Jazz und der Livemusik zu versöhnen, ist der innovative Ansatz des Leo Betzl Trios – LBT, vor Jahresfrist auch mit dem BMW Welt Jazz Award und dem Burghauser Jazzpreis bedacht. Neben dem Namensgeber, Initiator und Pianist Leo Betzl überzeugte am umgebauten, gestrichenen, gezupften oder auch mal geschlagenen Kontrabass Maximilian Hirning, der auch für einen Teil der Kompositionen verantwortlich zeichnete. Das nimmermüde Kraftwerk der Truppe am höchst fantasievoll erweiterten Schlagzeug war Sebastian Wolfgruber. Gleich die ersten Beats kamen in der mittlerweile gut gefüllten Kulturhalle technotypisch satt und kraftvoll. Eine sonor schmatzende Kickdrum mit fetten Wumms, an der unteren Hörgrenze wummernde Tiefbässe und viele repetitive Elemente, kombiniert mit einem experimentell extrem erweiterten, durchaus auch psychedelischen Klangspektrum, überaus druckvoll abgemischt, ließen die Vorband im Nachgang doch vergleichsweise blass aussehen. „Faszinierend, dass die auch ohne elektronische Instrumente und automatisierte Patterns wie waschechter Techno klingen“ waren Stimmen aus dem verblüfften Publikum zu vernehmen. „Unglaublich, was die aus Klavier, Kontrabass und Schlagzeug herausholen“ war verbreitete Meinung. Oder mit der Stimme eines langjährigen Jazzclub-Stammgastes: „Ich wusste gar nicht, dass ein klassisches Jazzklaviertrio auch so klingen kann“. Aber was den einen vor Verwunderung und Staunen die Ohren und Augen aufgehen ließ, ließ die anderen ungeniert und extroviert sich in Ekstase tanzen. Der kraftvolle Groove ließ die Halle vibrieren und das Blut kochen. Selbst manche der geladenen Honoratioren gingen ab wie Schnitzel. Fast unmerklich für die einen und durchaus erfreulich für die anderen war der in der Livemusikszene häufig geschmähte Techno richtig lebendig geworden, professionell und handgemacht, mit echtem, von Herzen kommendem Puls durchzogen und mit improvisatorischen Elementen virtuos durchsetzt. Dass dabei auch viele fantastische, oft selbstentwickelte akustische Instrumente wie etwa einen auf den Beckenständer montierten Fahrradspeichenkranz oder präparierte, speziell gedämpfte Saiten des Klaviers in der Tradition eines John Cage und vieles mehr eine Rolle spielten, machte das Erlebnis umso frappierender. Dieser Weg könnte durchaus weiter ins Land Utopia führen. Ob die Titel der textlosen Songs – auf der neuen Doppel-CD finden sich solche wie „Zappa“, „Parks Bells“ oder „Changing Moods“ – auch als Verstehungshilfe taugen, muss wohl jeder mit sich selbst ausmachen.

Text und Fotos: Helmut Schönecker

18.11.2022: Lorenzo Petrocca Italian Organ Trio

Locker-leichter Soul mit italienischem Flair

Petroccas melodienseliges Italian Organ Trio im Jazzkeller

BIBERACH – „Konzert für Schlagzeug und Begleitband“ hätte auf den ersten Eindruck das Motto der Veranstaltung im Jazzkeller der Bruno-Frey-Musikschule lauten können. Dominant in mehrfacher Hinsicht war er nämlich, der Mailänder Schlagzeuger Tommaso Bradascio mit sizilianischen Wurzeln. Mittig auf der Bühne platziert, zwischen seinen feinfühligen Mitspielern an der warm und einschmeichelnd klingenden Gibson-Gitarre des Wahlstuttgarters Lorenzo Petrocca und der im unverwechselbaren Hammond-Leslie-Sound vernehmbaren Viscount-Legend-Orgel stand er auch ohne elektrische Verstärkung akustisch im Mittelpunkt des Geschehens. Temperamentvoll, leidenschaftlich, hoch virtuos und voll überschäumender Spielfreude bildete er das nimmermüde Kraftwerk des „Italian Organ Trios“. Der Turiner Organist Alberto Marsico, den Formablauf und die Grammatik der Stücke fest im Blick, musste ihn ein manches Mal gar durch laute Zurufe aus seinen Exerzitien heraus zur Ordnung rufen.

Hatte man sich aber einmal um das Schlagzeug „herum“ gehört oder hatte Bradascio von den Sticks gelegentlich auf die Jazzbesen gewechselt, offenbarte sich der locker-leichte italienische Stil mit seinen plastischen und gestaltkräftigen Motiven und Melodien erst so richtig. Der aus der Pythagoras-Stadt Crotone in Kalabrien stammende Lorenzo Petrocca, der in seiner Jugend übrigens auch schon württembergischer Boxmeister war, pflegt mittlerweile einen abgeklärten, sensiblen Stil mit weichem aber vollem Gitarren-Sound. Dieser eignet sich in hervorragender Weise um die überwiegend italienischen Melodien, die „Canzoni Italiane“ oder auch seine melodischen Eigenkompositionen wie das vor der Pause erklingende rasante „Cromatism“ zu interpretieren. Und an schönen Melodien und Ohrwürmern litt das illustre Programm wahrlich keinen Mangel. „Parla piu piano“ aus „Godfather“, besser bekannt als Titelmelodie und Ohrwurm aus „Der Pate“, eine soulige Version des italienischen Gassenhauers „O Sole Mio“ als „O Soul Mio“ oder das unsterbliche „Nessun Dorma“ von Puccini ließen dem melodieseligen Zuhörer wohlige Schauer auf den Rücken laufen. Mit diesen bekannten und berührenden Melodien im Ohr erschlossen sich aber auch die interaktiv-improvisatorischen Umspielungen und Variationen derselben umso unmittelbarer. Bereinigt um den Schmalz unzähliger Coverversionen, klanglich etwas verfremdet, rhythmisch geschärft und versehen mit einer farbig erweiterten Harmonik erwachten die längst totgeglaubten Evergreens zu neuem Leben und versöhnten mit dem zumindest direkt vor der Bühne leider nicht ganz so ausgewogenen Gesamtklang.

Spätestens mit dem enthusiastischen Schlussapplaus und dem als Zugabe gespielten Bis-Blues war im stimmungsvoll dekorierten Jazzkeller aber wieder alles im Lot, und dass Petrocca bei all der Spielfreude und Begeisterung trotz der anbrechenden Vorweihnachtszeit vergessen hatte, auf die mitgebrachten CDs hinzuweisen, hinderte kaum jemanden am Kauf derselben.

Text und Fotos: Helmut Schönecker

13.11.2022: Max Mutzke & Marialy Pacheco

„Wunschlos süchtig“ mit Marialy und Max in der Stadthalle

Duoprogramm „Unsere Nacht“ spricht Biberacher Publikum an

BIBERACH – Rasend schnell waren die mitgebrachten CDs, vor allem die von Marialy Pacheco und Max Mutzke gemeinsam produzierte CD „Duets“, ausverkauft. Aber dieses Beweises für ein überaus begeisterndes Konzert in einer nahezu ausverkauften Stadthalle hätte es gar nicht bedurft. Ein guter, frisch gestimmter Bösendorfer Konzertflügel, exquisiter Sound, stimmungsvolle Beleuchtung, gutes Catering, erträgliche Temperaturen, volle Ränge und vor allem ein zum aktiven Mitmachen aufgelegtes und beifallsfreudiges Publikum inspirierten die beiden Künstler und ließen von Anfang an die Funken sprühen. Noch mehr als bei Mutzkes Originaltiteln brachten die exklusiven Arrangements von Marialy Pacheco sowie die intime Interaktion des Duos, untereinander und mit dem Publikum, die Seele der Musik und deren humanistische Botschaften zur Geltung.

Im sensiblen, aufgeschlossenen Miteinander trifft künstlerische Offenheit auf bodenständige Natürlichkeit. Mutzkes Heimatgefühle vom Südschwarzwald als dem wohlhabenden „Speckgürtel der Schweiz“ treffen auf Pachecos vormalige Gefühle des Eingesperrtseins im verarmten, menschenverachtenden Kuba. Die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit einer liberalen Demokratie trifft auf staatliche Zensur und ideologische Enge einer politischen Diktatur. Beide Künstler verdeutlichten ihre Überzeugungen nicht nur in den Anmoderationen – Kunst und Kultur seien die Leitplanken gesellschaftlichen Miteinanders. Ungleich glaubwürdiger und intensiver veranschaulichten sie diese Intentionen aber in den für das Konzert zusammengestellten Songs, zumal in deren jazzaffiner Offenheit und Spontaneität.

Ein solistisches Intro der gefeierten Jazzpianistin, dann ein ausgeprägt interaktives „Du Und Ich“ über einer ostinaten Begleitfigur, beginnend mit der warmen, souligen Gesangsstimme aus dem Off und schließlich die aktive Einforderung des Miteinanders in dem Song „Nimmst du mich in den Arm“ mit ausgeprägt lyrischen Teilen und nachdrücklicher Publikumsbeteiligung, spiegelte die Dramaturgie des Programmes, die Botschaften der Künstler eindrucksvoll wider. Rückt zusammen, sucht Nähe und Menschlichkeit, erzählt euch „Gute Geschichten“. Lasst uns zusammenfinden in „Unserer Nacht“, denn wir sind „So viel mehr“ – wenn wir aufeinander zugehen. Achtsamkeit ist dabei „Die beste Idee“. Eine überraschend nachgeschobene aber durchaus jazztypische Schlussdissonanz im Klavier, die berühmte „sixte ajoute“, sorgte auch bei Max Mutzke für ein kurzes Schmunzeln. Löste sich damit die „beste Idee“ schließlich doch nicht im finalen Dur-Wohlklang auf, sondern bekam durch den „schrägen“ Ton zusätzlich Würze, Farbigkeit und Offenheit. Vielleicht war dies Marialys Anspielung auf den folgenden Song „Wir sind eine große Familie“, den Mutzke in der Anmoderation mit einem Bonmot aus Köln anpries: „Arsch Huh, Zäng ussenander“ steht demnach für das gemeinsame Eintreten gegen Rechtsextremismus und Rassismus unter dem Motto „Köln stellt sich quer“. Die Kampagne gegen rechte Gewalt aus der Kölner Musikszene der 1990er Jahre wendete sich dabei, wie Mutzke und Pacheco, vor allem gegen eine weitverbreitete biedere Selbstzufriedenheit und Sprachlosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Missständen.

Inspiriert durch seinen Fernsehauftritt 2019 bei „The Masked Singer“ als Astronaut entstand Mutzkes Song „Back To The Moon“. Mit kräftiger, rauer und ausdrucksstarker Naturstimme, gelegentlich ins Falsett oktaviert, kontrapunktiert durch filigrane Klaviermotive und stimulierende „Fill-Ins“ lief der Abend mit dem ersten englischsprachigen Songtitel auf seinen Höhepunkt zu. Trotz der ungewöhnlichen Duo-Besetzung und der gegenüber dem Original sehr freien und komplexen Klavierbegleitung gelang der gerappte Funky-Hip-Hop-Titel „Regulate“ überaus überzeugend. Die Unplugged-Zugabe im verdunkelten Saal ging dann in ihrer unmittelbaren Authentizität buchstäblich unter die Haut und dürfte in vielen Ohren noch lange nachgewirkt haben.

Text und Fotos: Helmut Schönecker