Kritik – Seite 4 – Jazzclub Biberach e.V.

08.11.2024: Nicole Johänntgen Trio

Nicole Johänntgen geleitet durch das Labyrinth unserer Zeit

Experimenteller Jazz jenseits aller Plattitüden

BIBERACH – Die wahren Meister suchen stets die Herausforderung, die neuen Wege, das Risiko. So auch die vielfach ausgezeichnete Wahlschweizer Saxofonkoryphäe Nicole Johänntgen im vierten Konzert der erfolgreichen „Ladies in Jazz“-Konzertreihe des Jazzclubs. Die erste Herausforderung besteht bereits in der ungewöhnlichen Besetzung des Trios, ganz ohne Harmonieinstrument, nur mit Saxofon, Tuba und Perkussion. Die zweite Herausforderung liegt in dem künstlerischen Ansatz, allzu konventionelle Patterns konsequent zu vermeiden. Die dritte Herausforderung liegt darin, dem Publikum einen Weg durch das Labyrinth der Gegenwartskultur zu zeigen, einen Ariadnefaden für die Sinnsuche an die Hand zu geben. Dies auf experimentellem Weg, ohne Netz und doppelten Boden zu wagen, stellt dabei vielleicht die größte Herausforderung dar. Und zweifelsohne hat das internationale Trio all diese Herausforderungen gemeistert, ein rundum positives Lebensgefühl vermittelt, seine zahlreichen Biberacher Fans überzeugt, begeistert und mit gleich zwei Zugaben belohnt. Und auch der Verkauf der mitgebrachten CDs lief glänzend.

Weniger ist oft mehr. Eine ästhetische Einsicht, die in der Musikgeschichte immer mal wieder fruchtbar wurde. Vor rund hundert Jahren fanden die Komponisten einen künstlerischen Weg zurück von der überschäumenden Romantik und einem überbordenden Expressionismus. Die Reduktion auf das Wesentliche führte in der Dodekaphonie oder im kargen Neoklassizismus vor allem zu kleineren Ensembles. Schönbergs und Strawinskys Œuvre spiegeln diese Reduktion wieder und gipfeln gar im Minimalismus. Im Modern Jazz wurden die Ensembles als Reaktion auf die Swing- und Bigband-Ära ebenfalls wieder kleiner, kammermusikalisch transparent. Trotz gelegentlicher Anklänge an die Minimal Music geht Johänntgen nicht ganz so weit. Ihre eher rhetorisch und rhythmisch geprägte Motivik ist dazu viel zu expressiv, die kontrapunktische Verzahnung und Interaktion mit ihren Mitspielern viel zu intensiv, das spielerische Element viel zu ausgeprägt, die Improvisationen viel zu lebendig. Die klanglichen und rhythmischen Errungenschaften und Erweiterungen des Modern Jazz sowie dessen Multikulturalität hat sie dabei durchaus verinnerlicht. Skalen- und akkordbezogene Improvisationen werden weitgehend vermieden, Stimmung trefflich charakterisiert.

Rhythmisch geschärfte Unisonopassagen angereichert mit Multiphonics (gleichzeitiges Spielen und Singen in das Instrument) a la Albert Mangelsdorff auf Saxofon (Nicole Johänntgen) und Tuba (Jon Hansen) eröffnen den bunten Reigen, münden in dialogisierende, hochvirtuose Abschnitte, durchsetzt mit rhetorisch geprägten Phrasen und zusammengehalten durch sensibel groovende Rhythmuspatterns (David Staudacher). Das abwechslungsreiche Programm aus der letzten CD-Produktion „Labyrinth“ zieht das Publikum, beginnend mit dem Johänntgens Schweizer Wahlheimat gewidmeten „Lac Leman“, dem Genfer See, sofort in seinen Bann. Gelegentlich erklingende Kuhglocken aus dem Perkussions-Instrumentarium und vereinzelte „Muh-Rufe“ von der Tuba verstärken den helvetischen Eindruck. Eingestreute Songs, auch bereits vom demnächst erscheinenden neuen Album, ganz der Liebe gewidmet, lockern das Programm auf, führen durch das stilistische „Labyrinth“ unserer Tage, geben Einblicke in das, was die Komponistin derzeit vor allem beschäftigt: ihr vierjähriger Goldschatz Nenel. Ihm war nach „Pandeiro“, einem eindrucksvollen, hochdifferenzierten und heftig umjubelten Perkussion-Solo auf dem brasilianischen Tambourin, schließlich auch die zweite, ausdauernd herbeigeklatschte Zugabe gewidmet.

Text und Fotos: Helmut Schönecker

18.10.2024: Monika Herzig’s Sheroes

Weibliche Jazz-Championsleague in bester Spiellaune
„Monika Herzig’s Sheroes“ gastieren auf ihrer Welttournee in Biberach
BIBERACH – Die neueste CD-Produktion von Monika Herzig’s Sheroes, „All In Good Time“, das vierte Album des Sextetts zur Feier des zehnjährigen Bestehens, steht seit 12 Wochen in den Billboard Jazz Charts der Vereinigten Staaten. Wer dort präsent und vor allem auch so lange präsent ist, ist ganz oben angekommen. Und dank der Spürnase der Programmverantwortlichen des Jazzclubs gab es jetzt die seltene Gelegenheit, im Rahmen der Reihe „Ladies in Jazz“, in einem Livekonzert an diesem unglaublichen Erfolg teilhaben zu dürfen. Der Biberacher Club findet sich damit auf der Tourliste der Sheroes in einer Reihe mit so renommierten Jazzclubs wie dem „Porgy & Bess“ in Wien oder auch dem „Ella & Louis“ in Mannheim. Zwischen zahlreichen Konzerten in den USA, Spanien, Österreich, Indien und Nepal war die oberschwäbische Kleinstadt einer der wenigen Anlaufpunkte in ganz Deutschland, am darauffolgenden Abend stand bereits Madrid auf dem Plan. Und obwohl die SHEroes – die weiblichen Heroes des Jazz – nur im Quartett antreten konnten, rissen sie die Biberacher Jazzfans im ausverkauften Jazzkeller buchstäblich vom Hocker.
In den Pausengesprächen überschlugen sich die begeisterten Kommentare im fachkundigen Publikum. Hatte der eine Jazzfan die beste Schlagzeug-Live-Darbietung überhaupt vernommen und konnte seiner Faszination über die eigens für die Tournee vom Broadway losgeeiste mexikanische Drummerin Rosa Avila kaum mit genügend starken Adjektiven Ausdruck geben, gefiel anderen Besuchern vor allem die Wiener Kontrabassistin Gina Schwarz, erst 2022 mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Ihr brillantes Bass-Spiel gleicht einem eleganten Tanz auf und mit dem fundamentalen Instrument, das bei ihr nicht nur verlässlich groovt und virtuos-raffinierte Improvisationen mit Charme gebiert, sondern trotz der tiefen Lage eine schwebende Leichtigkeit erzeugt, die in der Szene einzigartig ist. Neben der Bandleaderin Monika Herzig steuerte sie ebenfalls eigene Kompositionen zum Programm bei.
Dass die New Yorker Guggenheim-Stipendiatin Jamie Baum elf Mal in Folge jeweils für die „beste Flötistin des Jahres“ nominiert und dabei auch meist erste oder doch vordere Plätze erreichte, konnte derjenige erahnen, der ihr beim Spielen und Improvisieren aufmerksam zuhörte. Als einziges reines Melodieinstrument des Quartetts hatte die weitgereiste Dozentin der renommierten Manhattan School of Music und der New School in New York die melodische Hauptlast des Konzertes zu tragen. Auf ihren beiden Flöten deckte sie dabei ein so breites genreübergreifendes Spektrum an musikalischen Einfällen ab, dass es an nichts mangelte.
An Preisen und Auszeichnungen mangelt es der aus Albstadt stammenden Monika Herzig ebenfalls nicht. Nach 30 Jahren als promovierte Dozentin an der Indiana University und zahlreichen Preisen (DownBeat Magazin Awards; JazzWeek) für ihre Interpretationen (u.a. als Opener für „Power of Tower“, „Sting“ und „Yes“), Kompositionen („Just Another Day at the Office“ wurde sogar in die Jazz-Sammlung „New Standards“ aufgenommen) und Forschungsarbeiten (über David Baker und Chick Corea) übernahm sie vor zwei Jahren eine Professur für „Artistic Research“ an der „Jam Music Lab Private University“ in Wien. Dass unter all der Forschungsarbeit keineswegs ihre kompositorischen und pianistischen Fähigkeiten leiden, stellte sie im erneut ausverkauften Freitagskonzert des Jazzclubs eindrucksvoll unter Beweis. Die vorgestellten Kompositionen des neuen Albums „All In Good Time“, allen voran die gleichnamige Titelkomposition, weisen neben einer vielgestaltigen Melodik und Rhythmik eine Komplexität in Struktur und Harmonik auf, die, trotz ihrer Dichte, trotz ihres hohen künstlerischen Anspruchs und dem konsequenten Vermeiden gängiger Klischees einen unmittelbaren Zugang ins Innerste ihrer Zuhörer finden.
Leider nur eine Zugabe – die Weiterreise nach Madrid drängte –, dafür viele signierte CDs für viele begeisterte neue Fans und ein herzlicher Dank an die Organisatoren beschlossen einen grandiosen Konzertabend, der als Markstein in der jüngeren Veranstaltungsserie des Jazzclubs gelten darf.
Text und Fotos: Helmut Schönecker

11.10.2024: Virginia MacDonald Quintet feat. Stephane Belmondo

Virginia MacDonald Quintett sorgt erneut für eine volle Bude
Newcomer vs. Alte Hasen
BIBERACH – Im Rahmen der Konzertreihe „Ladies in Jazz“ lockte das Virginia MacDonald Quintett erneut zahlreiche Besucher in den Jazzkeller, die gemütlichen Bistrotische mussten zugunsten weiterer Sitzplätze weichen. Der Österreicher Bernd Reiter am Schlagzeug, Spiritus rector und Manager der Formation, in Paris lebender, ausgewiesener Kenner der internationalen Jazzszene und gewissermaßen Mentor der jungen kanadischen Klarinettistin hat mit der Zusammenstellung dieses Quintetts einen ausgesprochenen Glücksgriff getan. Obwohl der italienische Starbassist Aldo Zunino wegen eines Sehnenproblems kurzfristig durch Rudi Engel ersetzt werden musste, swingte die hochkarätig besetzte Truppe mit sichtlicher Spielfreude auf gleicher Wellenlänge und konnte damit rundum begeistern.
Überwiegend frisch aufpolierte Standards der Swing- und Bebop-Ära mit einem gehörigen Schuss Blues gemixt lieferten die Grundlagen für ausgedehnte, abwechslungsreiche Improvisationen. Der in Wien lebende Jazzpianist Oliver Kent steuerte am Kawaiflügel eine abwechslungsreiche, niemals aufdringliche Begleitung zum Geschehen bei, glänzte aber auch mit ausgedehnten Soloimprovisationen und großem Einfallsreichtum. Der mit allen Wassern gewaschene Pariser Startrompeter Stephane Belmondo zelebrierte seine Darbietungen und lieferte sich mit der hochvirtuos aufspielenden jungen „Rising Star“ – Klarinettistin Virginia MacDonald amüsante Dialogimprovisationen. Er reizte die Namensgeberin der Band immer wieder zu kreativen Höchstleistungen und gerierte sich als Primus inter pares. Mit der jugendlich spritzigen Virtuosität der Klarinettistin konnte oder wollte er zwar nicht mithalten, kompensierte dies aber durch expressive Leidenschaftlichkeit. Ausgedehnte, technisch brillante Schlagzeugsoli von Bernd Reiter lockerten das Gefüge auf und der emeritierte Bass-Professor der Würzburger Musikhochschule Rudi Engel forderte dem geliehenen Kontrabass bei seinen blueslastigen Improvisationen alles ab.
Reiters Idee, die junge hochbegabte Newcomerin Virginia MacDonald auf einer Europatournee mit erfahrenen Routiniers zusammenzubringen führte hier zu einer Win-Win-Situation für alle Beteiligten und trug schmackhafte musikalische Früchte, die zwar nicht zur Avantgarde des Genres zählen jedoch eindeutig beim Publikum ankommen.
Text: Helmut Schönecker

21.09.2024: Sisters in Jazz International

Auftaktkonzert zur Reihe „Ladies in Jazz“
„Sisters in Jazz – International“ begeistern im ausverkauften Jazzkeller
BIBERACH – Aus einem internationalen Netzwerk von über 30 Jazzmusikerinnen, eben den „Sisters in Jazz“,  fanden zum Saisonstart des Herbstprogramms vier Ausnahmekünstlerinnen ihren Weg zu den Jazzbibern. Mit einem Paukenschlag eröffneten die „Sisters in Jazz“ aus Isabelle Bodenseh, Tamara Lukasheva, Izabella Effenberg und Katharina Gross die ambitionierte Konzertreihe des Jazzclubs unter dem Motto „Ladies in Jazz“. Frauen im Jazz, das sind in der Jazztradition zumeist singende Frontfrauen oder Vorzeigesolistinnen. Diesem Vorurteil machte das illustre Quartett schnell den Garaus. Alle vier Damen sind renommierte Komponistinnen mit je eigenen Bands, mit kraftvollen, eigenständigen Ideen und charakteristischem Personalstil. Vom ersten Ton an bis zur letzten Zugabe konnten sie rundum begeistern und überzeugen.
Das kurzweilige Konzertprogramm bestand ausschließlich aus Eigenkompositionen der Bandmitglieder. Ursprünglich oft für andere Besetzungen konzipiert, fanden sich die Stücke für die aktuelle, durchaus ungewöhnliche Besetzung aber im neuen Gewand und ganz offenkundig in neuer Frische wieder. Die stilistische Eigenständigkeit der Musikerinnen führte dabei glücklicherweise nicht zu einer heterogenen unverbindlichen Klangcollage. Vibraphon, Sun Drum und andere Perkussionsinstrumente, E- oder Kontrabass, diverse Querflöten, Flügel und Singstimme traten in immer neuen Farbmischungen in kaleidoskopartiger Klangsinnlichkeit zusammen, fanden dabei aber zu einer überraschend homogenen Stimmigkeit.
Weit entfernt von abgehobener oder zerfließender Klangschalen-Esoterik bediente die ehemalige polnische Karatekämpferin Izabella Effenberg ihr vielfältiges Instrumentarium, darunter eine exotische XXL-Kalimba, präzise groovend und wurde damit zu einem festen strukturellen Bestandteil der Kompositionen. Am höchst virtuos gespielten Vibraphon lieferte sie sich gelegentlich sogar dialogisierende Improvisationen mit der im Hochgeschwindigkeits-Scatgesang geübten ukrainischen Sängerin und Pianistin Tamara Lukasheva, die ihrerseits am Flügel oft in ein kontrapunktisch-melodisches Wechselspiel mit der französisch-stämmigen Isabelle Bodenseh an den Querflöten trat oder sich auch in rasanten, bebopartigen Unisonolinien mit derselben zusammenfand. Der weiche, sonore und recht selten gehörte Klang der Bass-Querflöte umschmeichelte die Zuhörer und ließ die ausdrucksvoll interpretierten Melodien plastisch hervortreten, ohne die Mitspielerinnen dadurch in eine bloße Begleitrolle zu drängen. Die im Rhein-Neckar-Raum basierte Katharina Gross steuerte einen kernig-knackigen Bass-Sound mit oft auch rock- oder fusionlastigen Grooves zum Geschehen bei und moderierte, wie auch ihre Kolleginnen, kurzweilig, informativ und unterhaltsam ihre eigenen Kompositionen an.
Text und Fotos: Dr. Helmut Schönecker

03.05.2024: Christoph Stiefel Piano Solo

Schweizer Pianist entzückt Jazzbiber mit Soloprogramm
Mit Christoph Stiefel im Auge des Sturms
Wie in der seiner jüngsten Tochter gewidmeten Komposition „Zaubertrank für Eliane“ verabreichte der Züricher Pianist auch dem faszinierten Publikum im Jazzkeller ein magisches Elixier voller Poesie. Überwiegend aus seinem dritten Soloalbum „Sofienberg Spirits“ zusammengestellte Stücke entrückten viele Besucher in eine tranceartige Kontemplation. Aufgenommen in der gleichnamigen Kirche des mitten im Zentrum von Oslo gelegenen Sofienbergparks, einer grünen Oase der Ruhe in der pulsierenden norwegischen Hauptstadt, atmen die Stücke der CD auch den Geist dieses Ortes: entspannte Gemütlichkeit und Lebensfreude pur abseits des Großstadtrummels. Aufgelockert durch einige Standards entführten die meist isorhythmisch geprägten Stücke des Soloprogramms den geneigten Hörer in ein Paralleluniversum, in eine transzendental erweiterte Wirklichkeit, die erst zum wahren Kern des Daseins führt. Aus der Erkenntnis „In der Ruhe liegt die Kraft“ gespeist, geleiten Stiefels Stücke als musikalisch-meditative Exerzitien ins Innere des Selbst. Neben der feinsinnigen Plastizität der tonal geprägten Melodik und einer dezent erweiterten, pastellfarbigen Jazzharmonik führt vor allem die sich aus der Isometrie ergebende rhythmische Vielschichtigkeit zu einer schwebenden Leichtigkeit. Der unverbindlichen Offenheit freier Improvisationen stellt Stiefel die festgefügte, sich aber permanent gegeneinander verschiebende Überlagerung immer gleichbleibender rhythmischer und melodischer Patterns gegenüber. Die daraus resultierende, pulsierende Polyrhythmik gliedert die Zeit auf verschiedenen Ebenen, spiegelt so die komplexe Welt der Gegenwart und zwingt die Hörer wahlweise in den anspruchsvollen Nachvollzug der komplexen Strukturen oder auch zum völlig losgelösten, emotionalen Treibenlassen ins Nirvana, ins zeit- und raumlose Nirgendwo. Letzteres beflügelt durch die gelegentliche klangliche Verfremdung des akustisch gespielten Flügels mittels einer Präparation einzelner Saiten durch hölzerne Wäscheklammern oder den Einsatz von Malletschlägeln und elektromagnetischen Helferlein aus dem Tretminen-Fundus der E-Gitarristen. Die daraus resultierenden schwebenden Klänge, an tibetanische Klangschalen oder japanische Mallets erinnernd, vermittelten einen fernöstlichen „Touch“ und gemahnten ihrerseits an die traditionelle Teezeremonie und deren, dem Zen nahestehende Philosophie.
Text und Foto: Dr. Helmut Schönecker, Jazzclub Biberach

20.04.2024: Biberacher Jazzpreis 2024 (Konzert: Shuteen Erdenebaatar Quartett)

Internationaler Biberacher Jazzpreis 2024 mit starker Resonanz

Renner Trio aus München erringt den ersten Preis

BIBERACH – Mit über 30 zumeist hochkarätigen Bewerbungen erwies sich der 15. Biberacher Jazzpreis seit 1990 erneut als außerordentlich beliebt, ist er doch nach wie vor einer der wenigen international ausgeschriebenen Wettbewerbe ausschließlich für jugendliche Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker. Das hohe Niveau der fünf zum diesjährigen Finale zugelassenen Formationen kommentierte Jurymitglied Oliver Hochkeppel als Ergebnis einer schwierigen Auswahl der Allerbesten aus den sehr Guten. Neben dem breiten stilistischen Spektrum, vom Straight Ahead Jazz über den A Cappella Gesang zu Samba und einer Jazz-Avantgarde in kammermusikalischer Komplexität hinterließ auch die starke Publikumsresonanz beim überaus spannenden Finale in der stilvoll aufbereiteten Stadthalle bei den Veranstaltern, dem rührigen Jazzclub und dem Kulturamt Biberach, nur zufriedene Gesichter.

Nach einer knappen Begrüßungsrede der Kulturamtsleiterin Dorothea Weing nahm das straff durchgetaktete musikalische Kräftemessen seinen kurzweiligen Gang. Der zuvor ausgelosten Reihenfolge verdankte „Bluff“ den eher ungeliebten ersten Auftritt. Nach der mitreißenden Darbietung des in Berlin und Hamburg verorteten Quartetts und mit Malte Wiest einem Lokal Hero am Schlagzeug, glaubten bereits viele Besucher, den späteren Sieger oder doch zumindest den Publikumssieger gehört zu haben.

Doch bereits die folgende Formation, das fünfköpfige A-cappella-Ensemble „Lylac“ aus Mainz, verblüffte durch seine Andersartigkeit, durch die hohe Qualität und Komplexität der Eigenkompositionen und besonders auch durch die Perfektion deren stimmlicher Umsetzung. Die Improvisationsanteile fielen allerdings eher spärlich aus.

Das Quartett der Stuttgarter Schlagzeugerin Lisa Wilhelm wartete mit fantasievollen, eher lyrischen Sujets auf. Die Dramaturgie in der Abfolge der nicht unbedingt auf Effekte getrimmten Stücke war allerdings eher unglücklich gewählt, die Bühnenpräsenz ausbaufähig, die Anspannung deutlich spürbar.

Der Kontrast zum darauffolgenden Renner-Trio aus München war mit Händen zu greifen. Nur mit Posaune, Kontrabass und Schlagzeug zauberten die drei jungen Künstler mit stupender Virtuosität und souveräner Beherrschung ihrer Instrumente ein dichtes rhythmisch-melodisches Geflecht, in dem das fehlende Harmonieinstrument keinen Mangel sondern eine Inspiration darstellte. Die weich und sonor klingende Posaune von Moritz Renner, etwa in seiner Eigenkomposition „Motus“ mit einer „Multiphonics-Hommage“ an Albert Mangelsdorff versehen und einem packenden, überaus melodischen Kontrabass-Solo der aus Basel angereisten Tabea Kind aufgewertet, fand ihren Kontrapunkt im abwechslungsreichen, ebenso quirligen wie vielschichtigen und präzisen Schlagzeugspiel seines Bruders Valentin.

Valentin ist auch Mitglied in dem erst vor wenigen Tagen in Köln mit dem deutschen Jazzpreis 2024 als bestes Ensemble ausgezeichneten „Shuteen Erdenebaatar Quartet“, welches das Kurzkonzert vor der Preisverleihung gestalten durfte. Die aus Ulan Bator in der Mongolei stammende Pianistin, Komponistin und Bandleaderin hatte bereits vor zwei Jahren den Kompositionspreis und zweiten Rang beim Biberacher Jazzpreis errungen und toppte mit ihrem frisch gekürten Quartett auch das davor schon sensationell aufspielende „Duo Scheugenpflug Langguth“, welches unangefochten den Publikumspreis erringen konnte. Lukas Langguth hat bereits 2021 mit einem konzertanten Beitrag die Solistenwertung des jungen Münchner Jazzpreises errungen, Paul Scheugenpflug das diesjährige Frankfurter Jazzstipendium. Vor allem die Komposition „Orakel“, mit einer Widmung an alle „Schwarzseher“ versehen, dürfte im Gedächtnis bleiben, hat sie der Komponist doch mit einem griffigen Kalenderspruch kommentiert: „Sorgen sind wie Nudeln, man macht sich immer zu viele.“ Unmittelbar nach dieser Ansage begann Paul am Sopransaxofon in tiefer Lage „herumzunudeln“, um aus dem „Genudel“ schließlich eine weitgespannte Melodie zu entwickeln, die vom Klavier aufgegriffen, harmonisch definiert und mit perlenden Tonkaskaden verziert wurde: „Pasta Al Dente“ mit der nötigen Würze.

Als Gesamtsieger mit einem Preisgeld von 2000 Euro durfte jedoch das Münchner „Renner-Trio“ auf das höchste Treppchen steigen, gefolgt von dem aus Stadtbergen bei Augsburg angereisten „Duo Scheugenpflug Langguth“ mit 1000 Euro und 500 Euro für den Publikumspreis obendrauf. Der dritte Podestplatz ging mit 500 Euro an „Bluff“. Das Preisgeld für das Vokalensemble „Lylac“ auf dem vierten Rang wurde durch den zusätzlichen Kompositionspreis auf 800 Euro erhöht. Und auch der Preis für den fünften Platz unter den Allerbesten dürfte die entstandenen Fahrtkosten noch deutlich übertroffen haben.

Nach Aussage fast aller Finalisten bemisst sich der eigentliche Wert des Biberacher Wettbewerbs aber nicht aus der Höhe der Preisgelder sondern aus dessen Renommee in der Fachwelt, aus der seltenen Gelegenheit mit anderen jungen Künstlern zusammenzutreffen, deren Beiträge zu verfolgen, gesellig zusammen zu sitzen, sich auszutauschen, zu feiern, mit den Juroren zu fachsimpeln und Kontakte zu knüpfen.

Erster Preis: Trio Renner

Gastkonzert: Shuteen Erdenebaatar Quartet

 

Text und Fotos: Helmut Schönecker