Nicole Johänntgen geleitet durch das Labyrinth unserer Zeit
Experimenteller Jazz jenseits aller Plattitüden
BIBERACH – Die wahren Meister suchen stets die Herausforderung, die neuen Wege, das Risiko. So auch die vielfach ausgezeichnete Wahlschweizer Saxofonkoryphäe Nicole Johänntgen im vierten Konzert der erfolgreichen „Ladies in Jazz“-Konzertreihe des Jazzclubs. Die erste Herausforderung besteht bereits in der ungewöhnlichen Besetzung des Trios, ganz ohne Harmonieinstrument, nur mit Saxofon, Tuba und Perkussion. Die zweite Herausforderung liegt in dem künstlerischen Ansatz, allzu konventionelle Patterns konsequent zu vermeiden. Die dritte Herausforderung liegt darin, dem Publikum einen Weg durch das Labyrinth der Gegenwartskultur zu zeigen, einen Ariadnefaden für die Sinnsuche an die Hand zu geben. Dies auf experimentellem Weg, ohne Netz und doppelten Boden zu wagen, stellt dabei vielleicht die größte Herausforderung dar. Und zweifelsohne hat das internationale Trio all diese Herausforderungen gemeistert, ein rundum positives Lebensgefühl vermittelt, seine zahlreichen Biberacher Fans überzeugt, begeistert und mit gleich zwei Zugaben belohnt. Und auch der Verkauf der mitgebrachten CDs lief glänzend.
Weniger ist oft mehr. Eine ästhetische Einsicht, die in der Musikgeschichte immer mal wieder fruchtbar wurde. Vor rund hundert Jahren fanden die Komponisten einen künstlerischen Weg zurück von der überschäumenden Romantik und einem überbordenden Expressionismus. Die Reduktion auf das Wesentliche führte in der Dodekaphonie oder im kargen Neoklassizismus vor allem zu kleineren Ensembles. Schönbergs und Strawinskys Œuvre spiegeln diese Reduktion wieder und gipfeln gar im Minimalismus. Im Modern Jazz wurden die Ensembles als Reaktion auf die Swing- und Bigband-Ära ebenfalls wieder kleiner, kammermusikalisch transparent. Trotz gelegentlicher Anklänge an die Minimal Music geht Johänntgen nicht ganz so weit. Ihre eher rhetorisch und rhythmisch geprägte Motivik ist dazu viel zu expressiv, die kontrapunktische Verzahnung und Interaktion mit ihren Mitspielern viel zu intensiv, das spielerische Element viel zu ausgeprägt, die Improvisationen viel zu lebendig. Die klanglichen und rhythmischen Errungenschaften und Erweiterungen des Modern Jazz sowie dessen Multikulturalität hat sie dabei durchaus verinnerlicht. Skalen- und akkordbezogene Improvisationen werden weitgehend vermieden, Stimmung trefflich charakterisiert.
Rhythmisch geschärfte Unisonopassagen angereichert mit Multiphonics (gleichzeitiges Spielen und Singen in das Instrument) a la Albert Mangelsdorff auf Saxofon (Nicole Johänntgen) und Tuba (Jon Hansen) eröffnen den bunten Reigen, münden in dialogisierende, hochvirtuose Abschnitte, durchsetzt mit rhetorisch geprägten Phrasen und zusammengehalten durch sensibel groovende Rhythmuspatterns (David Staudacher). Das abwechslungsreiche Programm aus der letzten CD-Produktion „Labyrinth“ zieht das Publikum, beginnend mit dem Johänntgens Schweizer Wahlheimat gewidmeten „Lac Leman“, dem Genfer See, sofort in seinen Bann. Gelegentlich erklingende Kuhglocken aus dem Perkussions-Instrumentarium und vereinzelte „Muh-Rufe“ von der Tuba verstärken den helvetischen Eindruck. Eingestreute Songs, auch bereits vom demnächst erscheinenden neuen Album, ganz der Liebe gewidmet, lockern das Programm auf, führen durch das stilistische „Labyrinth“ unserer Tage, geben Einblicke in das, was die Komponistin derzeit vor allem beschäftigt: ihr vierjähriger Goldschatz Nenel. Ihm war nach „Pandeiro“, einem eindrucksvollen, hochdifferenzierten und heftig umjubelten Perkussion-Solo auf dem brasilianischen Tambourin, schließlich auch die zweite, ausdauernd herbeigeklatschte Zugabe gewidmet.