Kritik – Seite 59 – Jazzclub Biberach e.V.

05.03.2004: Falk Zenker

Konzentrierter Falk Zenker Solo im Jazzkeller

Funktionale Klangarchitektur aus der digitalen Trickkiste

Der Weg ins meditative Nirwana war oftmals nicht allzu weit, wenn  der Gitarrist Falk Zenker am Freitagabend im Jazzkeller an den Knöpfchen seiner Soundmaschinen drehte oder mit diversen Fußschaltern seinen digitalen Live – Sampler bediente, um den Raum bis unter die Decke mit sphärischen Klängen zu fluten. Ein veritabler Musiker mit beachtlichen spieltechnischen Fertigkeiten auf der Gitarre machte sich aber nur vordergründig auf die Suche nach dem ultimativen Sound.

Gleich zu Beginn des Jazzclubkonzertes versetzte Zenker sein Publikum einigermaßen unerwartet ins tiefste Mittelalter, als er die filigranen Melodien eines Hallelujas aus den Zeiten des gregorianischen Chorals kirchentonaler Klangversunkenheit  entriss um eine musikalische Brücke über mehr als 1000 Jahre musikalischer Klanglichkeit zu spannen. Behutsam garnierte er die auf der akustischen Gitarre höchst sensibel und plastisch herausgearbeiteten Melodien der ursprünglich einstimmig unbegleiteten Männergesänge mit arpeggierten, den Raum weitenden Gitarrenakkorden. Mit perfekt polyphonem Spiel umrankte er im zweiten Titel die parallelen Quarten und Quinten der frühen organalen Mehrstimmigkeit mit motettischen Arabesken, die er schließlich, durchaus jazztypisch, vermittels modaler Improvisationen aufbrach und damit auf die Musik der Gegenwart bezog. Zenker zeichnete dabei nicht nur den historischen Weg in die Mehrstimmigkeit und in die bis heute ungebrochen anwachsende Bedeutung der Klanglichkeit nach, und er eröffnete damit, durchaus hintergründig und doppelsinnig, nicht nur das Konzertprogramm, sondern dem Publikum auch mottoartig sein persönliches Anliegen: hypertrophe Klangsinnlichkeit als künstlerischer Selbstzweck.

Es folgten zumeist experimentelle Kompositionen, wie etwa das als quasi therapeutische Unterwassermusik funktional konzipierte „Liquid Cinema“, mit den sicherlich gewollten Anklängen an hoch- und tieffrequente Walgesänge oder esoterische Werke, wie „Grasgeflüster“  und „Windspiel“ unter Einsatz einer afrikanischen Grasharfe oder einer Kalimba. Ob diese aber nur einen psychedelisch-exotischen Weg über die Grenzen des eigenen Ichs hinaus darstellen oder ob sie gar in philosophischer Geistestiefe eine sublime Kritik an inhaltsleerer Klanglichkeit vieler Gegenwartskompositionen verkörpern sollen, muss sich der in den klanglichen Untiefen versunkene Hörer wohl selbst beantworten. In seinen vorgeschalteten Präludien hat Zenker jedenfalls deutlich genug darauf hingewiesen, dass seine kunstvollen Klangarchitekturen keinesfalls nur oberflächliche, angenehm klingende dabei aber unbeseelte ästhetische Illusionen sind. Zenkers Musik hatte gleichermaßen Kraft und Tiefe.

06.02.2004: The Shin

Jazz aus Georgien mit „The Shin“ im Biberacher Jazzkeller

Musikalischer Parforceritt kaukasischer Cowboys

Sichtbare Spielfreude auf Seiten der vier georgischen Musiker und offenkundiger Hörgenuss beim zahlreich erschienenen Publikum vermittelten ein tiefes Glücksgefühl nicht nur beim veranstaltenden Jazzclub. Die Guitar-Nights versprechen zum Erfolgsmodell zu werden.

 

„The Shin took Five“ hieß, in Anspielung auf das berühmte, doch etwas stereotype „Take Five“, eine der herausragenden Eigenkompositionen des inspirierten Konzertabends. Außer dem 5er Takt gab es jedoch keine Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Stücken, im Gegenteil, da wo in „Take Five“ mit minimalistischen Mitteleinsatz und häufigen Wiederholungen ein Ohrwurm installiert wird, da herrschte bei „The Shin“ kreative Vielfalt in jeglicher Hinsicht. Egal ob in dem einleitenden Kosakenritt oder in dem Song von dem Kartoffelbauern, der es auf dem Markt in der großen Stadt gleich mit 20 Ganoven aufnimmt, in den pittoresken Kompositionen der georgischen Band fand sich eine Überfülle von originellen Einfällen in praller Daseinsfreude, voller Temperament und Leidenschaft. Besonders sinnfällig die Stelle, wo der Karren mit den Kartoffeln umfällt – dargestellt vom tadellos agierenden Schlagzeuger Ray Kaczynski, der mit großer theatralischer Geste beinahe sein Set über den Haufen warf.

 

Die klangliche Varianz der Standard-Besetzung aus meisterlich gespielter akustischer Gitarre (ZaZa Miminoshvili), virtuos gezupftem Fretless E-Bass (Zurab J. Gagnidze), Schlagzeug und Gesang war auch für Vollprofis ungewöhnlich. Unter Einsatz aller denkbaren spieltechnischen Mittel und mit einem gehörigen Schuss Exotik bereiteten die vier Musiker mit großer Sorgfalt und ästhetischem Feingefühl einen süffig-prickelnden Klang-Cocktail zu, erzeugten einen eigenständigen, höchst charakteristischen Sound, irgendwo zwischen Folklore, Weltmusik und Jazz. Die modulationsfähige, sympathische Stimme des Sängers Mamuka Ghaghanidze, der vor allem auch mit hierzulande im professionellen Gesang weniger gebräuchlichen Falsetttechniken charmante Effekte erzielte, krönte den prächtigen Klangeindruck. Entstand eben noch der Eindruck von sentimentalem Klezmergesang, groovte es im nächsten Moment in erdiger Bluesrockmanier, glaubte man gerade noch den Ruf des Muezzin aus seinem Minarett zu vernehmen, lockte gleich darauf die inspirierteste Jazzballade in ganz andere Weltgegenden und Etablissements. All diese Mannigfaltigkeit wurde jedoch zusammengehalten durch ein Musikgefühl, auf welches nur der, wenn auch vielstrapazierte, Ausdruck „Vollblutmusiker“ passt. Die aufregende, vielschichtige Musik von The Shin machte durchaus Appetit auf mehr „kaukasische Kultur“. Was immer sich auch ursprünglich dahinter verbergen mag, dergestalt aufbereitet, bietet diese Musikauffassung eine außerordentliche Bereicherung der westlichen Kulturszene oder wo sonst kann man originären Jazz hören, der höchstens beiläufig mal amerikanisch klingt? Erst nach zwei Zugaben, völlig „geschafft“ und durchgeschwitzt, durften die ihrerseits vom Biberacher Publikum begeisterten Georgier die Bühne verlassen.

 

Gez. Dr. Helmut Schönecker

23.01.2004: Fabro

Oliver Fabro mit Flamenco-Jazz im Biberacher Jazzkeller

Virtuos-virtuelle spanische Impressionen

Eigentlich war nichts daran Spanisch. Ein Lörracher – Oliver Fabro und zwei Riedlinger – Harry und Wolfgang Eisele – suggerierten dem zahlreich erschienenen Publikum im Biberacher Jazzkeller dennoch in überzeugender Weise spanisches Flair, Temperament und Leidenschaft. Das Trio aus Gitarre, Flügel und einem Sammelsurium an weiteren Instrumenten überzeugte dabei mit seiner beseelten Musik auch Skeptiker.

Leider nur zwei balladenhafte Titel enthielt das vielseitig abwechslungsreiche Programm, diese aber boten Herausragendes: echte, tiefe Emotionen, Sehnsucht ohne Künstlichkeit. Das Publikum saß völlig entrückt und verzückt und brauchte Sekunden nach dem Verklingen des Schlussakkordes um die verklärte Stimmung durch profanen Beifall wieder aufzulösen. Geschickt platziert, nur eines pro Set,  bewahrten diese verträumten Stücke das begeisterte Publikum immer wieder vor dem Abheben. Unter Einsatz spanischer Klatschtechniken aus der Flamencoecke, den Palmas, durch eine höchst virtuos gespielte spanische Gitarre, durch rasende Unisonolinien zwischen Gitarre oder Mandoline und Klavier, durch erfrischende Rhythmen aus dem magischen Dreieck zwischen Spanien, Irland und Südamerika sowie durch leidenschaftliche Improvisationen im Jazzidiom schlug das sichtlich inspirierte Trio zu seinem 15-jährigen Jubiläum alle Anwesenden in seinen Bann, ließ Wogen der Begeisterung aufbranden.

Natürlich tötet eine durchlaufende Bassdrum sofort jeden Samba, Rumba, Son oder Bossa Nova und treibt Puristen zur Verzweiflung. Und natürlich lässt die bunte Vielfalt und ungenierte Mischung verschiedenster Stilmerkmale sofort den Verdacht des Eklektizismus und der Effekthascherei aufkommen. Natürlich fragt sich der Hörer mit geschultem Ohr, ob rasante Staccatopassagen im Unisono aller drei Musiker denn überhaupt sein müssen, wenn sie denn nicht tatsächlich sauber, synchron und wie selbstverständlich daherkommen. Aber wo Fabro draufsteht ist offenkundig auch Fabro drin: Alle ästhetischen Bedenken blieben nur äußerlich und wirkten aufgesetzt, weil die Kraft und Lebendigkeit der Musik sich ihre eigenen Wege bahnte und weil die persönliche Integrität der Musiker aus den Ingredienzien ihres Materials über alle Genres hinweg etwas Neues und Eigenständiges zusammenschmolz, den höchst phantasievollen Personalstil á la „Fabro“.

Ob in einer spanischen Malaguena, einem argentinischen Tango, einem irischen Reel oder einem kubanischen Son, der rhythmische Hauptmacher Wolfgang Eisele an der selbstgebauten Basstrommel und unzähligen weiteren Perkussionsinstrumenten hielt die Fäden in der Hand. So ganz nebenbei spielte der Multiinstrumentalist auch noch Querflöte, Sopran- und Altsaxophon oder die zweite Gitarre, niemals aber bloß die zweite Geige: ebenso wie sein Bruder am Piano ein profunder Aktivposten, über dem sich der souveräne Fabro zu musikalischen Höhepunkten aufschwingen konnte.

 

11.01.2004: Jailhouse Jazzmen

Volle Pulle Weissbier – Schwungvoller Start in die neue Jazz-Saison

Jailhouse Jazzmen als ultimative Frühschoppenband

Das neue Jahr 2004 hat in Biberach ohne Zweifel eine Traditional Jazz – Renaissance der besonderen Art eingeleitet. Ausschlaggebend hierfür waren die aus ihrem Knast am Bodensee ausgebrochenen, von Konstanz und Überlingen über Ravensburg und die B 30 nach Biberach entkommenen Jailhouse Jazzmen.

Nur einer glücklichen Fügung ist es zu verdanken, dass die „kriminellen Seehasen“ im Biberacher Jazzkeller „inhaftiert“ und schließlich dem in Massen zusammengeströmten Publikum vorgeführt werden konnten. Dieses ließ von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, dass die sieben finsteren „Jazz-Ganoven“ nicht so ohne weiteres davonkommen würden. Auch der Umstand, dass diese sich als „Ehrenbürger“ von New Orleans auswiesen, konnte das begeisterte Publikum nicht zu mildernden Umständen bewegen: die Knastbrüder mussten über die volle Distanz von 3 Sätzen und durften auch nach zweieinhalb Stunden erst nach mehreren Zugaben von der Bühne gehen. Und nur mit größter Mühe und selbstlosem Einsatz konnten die Verantwortlichen des Jazzclubs für die wackeren Jazzmänner noch einige wenige Weisswürste vor dem Zugriff der aufgedrehten Zuschauer retten.

„Ein Mann wie ein Baum – ein Bonsaibaum“, so stellte der eloquente Moderator Wolfgang Skupin, der im Nebenjob ganz passabel Banjo spielt, den heimlichen Superstar der Jailhouse Jazzmen vor: Miki Ampoitan. Dem ehemaligen Klarinetten- und Saxophonstar der staatlichen rumänischen Radio Bigband merkt man seine 76 Jahre kaum an. Dezent, fast schüchtern, mit verstecktem Humor und großem Enthusiasmus gespielt, treffen seine Improvisation ohne jegliches Getue mitten  ins Schwarze. Herausragend seine Interpretation von Sidney Bechets Klarinetten-Welthit „Petite fleur“, verklärte Blicke und lang anhaltender Beifall eines inspirierten Publikums ließen den körperlich kleinen musikalischen Riesen über sich selbst hinaus wachsen.

Zünftig, voller Leidenschaft und Spielwitz zeigten sich auch die weiteren Musiker in einer New Orleans Jazz – Standardbesetzung aus Saxophon (Daniel Sernatinger), Trompete (Franz Ege), Posaune (Hans Helbig), Banjo/Gitarre (Wolfgang Skupin), Kontrabaß (Hans Schornick) und Schlagzeug (Klaus Helbig). Herrliche Kollektivimprovisationen der Frontmänner, interessante, abwechslungsreiche Arrangements von Daniel Sernatinger sowie der richtige Swing und Groove von der Backline hinterließen einen nachhaltigen Eindruck und brachten in Verbindung mit der richtigen, familienfreundlichen Titelwahl die Stimmung von Beginn an auf Hochtouren. Der „Flat Foot Floogie“, „Puttin’ on the Ritz“, „Savoy Blues“, ein Dschungelbuch-Medley und andere Oldtime-Highlights ließen selbst die Füßchen und Köpfchen der zahlreich vertretenen allerjüngsten Zuhörer mitwippen. Auch so gewinnt der alte Jazz neue Fans. Die Reststrafe der Jailhouse Jazzmen wurde dem Vernehmen nach gegen die Auflage, in spätestens einem Jahr sich wieder zu einem Auftritt in Biberach einzufinden, zur Bewährung  ausgesetzt.

 

Gez. Dr. H. Schönecker

05.12.2003: Brass Mission 

Brass Mission erfüllen ihre Mission im Biberacher Jazzkeller

Edelmetall-Exhibitionisten

Fünf kapitale Mannsbilder der besonders standfesten Sorte, exzellente Blechbläser, exponierten sich im Rahmen der neuen Biberacher Veranstaltungsreihe „Brass partout“ am Freitagabend im Jazzkeller vor einem begeisterten Publikum: Geglückte Brass Mission im Jazzkonzert.

Drei ausdauernd erklatschte und bereitwillig gewährte Zugaben gaben Zeugnis von dem besonders im zweiten Set bei Publikum und Musikern gleichermaßen kulminierenden Enthusiasmus. Witzig-Ironisches, wie etwa eine hintergründige Persiflage über das von Albert Mangelsdorff in den Jazz eingeführte mehrstimmige Spiel auf einer Posaune, stand unmittelbar neben so Andächtig-Weihevollem, wie dem der Jahreszeit geschuldeten finalen Weihnachts-Special . Von warmen Bläserchoral-Klängen bis zu messerscharfen Bigband-Riffs, von melancholischen Bluesballaden zu modernen Jazz-Aphorismen reichte die Palette an Ausdrucksvarianten, die je nach Bedarf auf dem weicheren Flügelhorn oder der härteren Jazztrompete erklangen. Frappierend dabei die musikalische Eloquenz, mit der gewöhnliche, nur durch das Spiel mit der Raumakustik geadelte, tumbe Nachschläge mit höchst virtuosen, über das viergestrichene „c“ hinaufführenden Jubelarien verbunden wurden.  Dass dabei immer wieder auch ein sportlicher Aspekt des „Höher, Schneller, Weiter“ in den Vordergrund trat, liegt wohl in der Natur solch exzellenter Blechbläser, die einen gewissen exhibitionistischen Grundzug nicht verleugnen konnten. Die gegenseitigen Huldigungen bei geglückten olympiaverdächtigen Höhen- und oftmals auch gefährlichen Gratwanderungen ließen das Publikum an den wagemutigen Abenteuern der wackeren, edlen Trompetenheroen Jürgen Roth, Joachim Kunze und Martin Auer teilhaben. Der pejorative Begriff „Blech“ sollte angesichts solcher Leistungen eher durch Edelmetall ersetzt werden.

Bei weitem am erstaunlichsten an „Brass Mission“ war jedoch das Bandkonzept und hier vor allem der ungewöhnliche Band-Groove. Die Standardformation eines klassischen Blechbläserquintetts wurde mit drei Trompeten, Posaune und Tuba eben so neu definiert wie das typische Jazzensemble, wobei das Fehlen von Rhythmusinstrumenten de facto kaum ins Gewicht fiel, da der begnadete Tubist Harold Nardelli die komplette Rhythmus-Section in Personalunion verkörperte. Seinem solide groovenden Fundament verdankte „Brass Mission“ die Gelegenheit für zahlreiche musikalische Höhenflüge. Noch am ehesten in Stücken wie „Ant Square Dance“ oder „Meine Tante aus Böhmen“ klangen Standardmuster der Blasmusik hindurch. In „Don’t leave a friend with an empty bottle of wiskey“ und einer Reihe weiterer Eigenkompositionen fand die Musik hingegen zu ganz eigenen pittoresken Ausdruckformen. Der kanadische Posaunist Allan Jacobsen bot bei all dem einen sympathisch dezenten Kontrapunkt zu den drei dominierenden Trompeten, spielte aber mit seinen teilweise hochvirtuosen Beiträgen beileibe keine Nebenrolle.

 

Gez. Helmut Schönecker