17.11.2023: Andy Herrmann Quartett – Jazzclub Biberach e.V.

17.11.2023: Andy Herrmann Quartett

Andy Herrmann Quartett präsentierte „Sincerity“

BIBERACH – Bereits zum zweiten Mal im Rahmen der diesjährigen Konzertreihe des Jazzclubs anlässlich der Biberacher Heimattage stand Andy Herrmann auf der Bühne des erneut vollbesetzten Jazzkellers. Diesmal mit seinem seit 2016 bestehenden Quartett aus Arne Huber am Bass, Samuel Leipold an der Gitarre und Bastian Jütte am Schlagzeug und mit seinem neuesten Projekt „Sincerity“ im Gepäck. Stand bei seinem letzten Konzert noch das traditionelle „All American Songbook“ im Mittelpunkt des Geschehens, so war dieses Mal der aktuelle New-York-Stil, inspiriert von Pat Metheny und Lyle Mays, angereichert mit diversen europäischen Gestaltungselementen Gegenstand der erlesenen Darbietungen.

Polymetrisch angelegt, nach dem Vorbild einer spätmittelalterlichen Praxis in der „Mensuralmusik“ und gleichermaßen verwandt mit der komplexen afrikanischen Rhythmik, die ebenfalls die Gleichzeitigkeit verschiedener, sowohl gerader als auch ungerader Metren, zusammengehalten nur durch einen „Timekeeper“ kennt, waren die ungewöhnlichsten und wohl auch interessantesten Kompositionen des Bandleaders. Eine Reihe von Titeln erinnerten an die für Musiker besonders schwierige, für Komponisten oft aber auch recht produktive Coronazeit. „Omikron“ und vor allem das zupackende „Deltakron“ in seiner beinahe schon verstörenden Komplexität boten davon einen, von manchem jedoch eher als zwiespältig empfundenen Nachgeschmack. Weitere Nummern aus der Debüt-CD des Quartetts, „The Child in Me“ lockerten das Programm auf.

In der „Mensuralmusik“ der frühen Renaissance, aus der Zeit noch vor der Einführung von Taktstrichen, gab es das dreiteilige tempus perfectum, durch einen Kreis dargestellt und das durch einen Halbkreis dargestellte zweiteilige tempus imperfectum (eine Reminiszenz dazu ist das heute noch übliche C als Symbol für den 4/4 Takt). Im Zusammenwirken beider metrischer Ebenen entstand ein abwechslungsreiches, eigenartig schwebendes, besonders die niederländische Vokalpolyphonie charakterisierendes, relativ freies Rhythmusgefühl, welches dort vor allem durch die differenziertere Wortausdeutung seine Berechtigung fand. Die Transformation dieses Prinzips auf die stilistisch komplexe Gegenwartsmusik führt bei Andy Herrmann ebenfalls zu einer schwebenden Leichtigkeit und zu einer prickelnden, vielseitigen Rhythmik. Diese bildet eine durchaus willkommene Abwechslung zu den eher gleichförmig hämmernden Dance-Beats der letzten Jahre und Jahrzehnte. Ein 13/8-Takt kombiniert mit einem 13/4-Takt im fliegenden Wechsel mit einem 7er-Takt in den Improvisationsteilen und gleichzeitig unterlegten geraden Rhythmen im Schlagzeug scheint nur auf den ersten Eindruck konstruiert und steril. Wenn aber alle Mitwirkenden auf einer Wellenlänge zusammengefunden haben, ergibt sich daraus ein faszinierender und stimmiger Groove, der sich über den bloßen Tanzcharakter vieler moderner Rhythmen erhebt und gepaart mit der erweiterten Tonalität und Harmonik des Modern Jazz auf den Hörer eine befreiende Wirkung ausübt.

Apropos Groove. Der typische aus der Dance-Szene bekannte Drum-’n‘-Bass-Groove war ebenfalls eine der Inspirationsquellen, der Andy Herrmann ein Experiment mit dem Einsatz zweier zusätzlicher Keyboards und entsprechender Computersoftware bzw. einem Sequenzer im „Groovy Song“ widmete. Der hochdekorierte Münchner Drummer Jütte schien dabei allerdings deutlich unterfordert. Das Zusammenspiel mit den elektronischen Taktgebern wirkte angespannt und war nicht wirklich erfrischend. Immerhin trauten sich die Künstler nach elektronischer Tempovorgabe dem Stück ein „unbegleitetes“ Intro voranzustellen und schafften es doch tatsächlich, sich durch den späteren Einsatz der KI nicht völlig aus dem Takt bringen zu lassen. Handgemacht und analog hat wohl im Live-Betrieb durchaus noch seine Vorzüge. Eine KI-freie Polymetrik ist der elektronisch getakteten Polyphonie künstlerisch allemal überlegen. Gewissermaßen als Wiedergutmachung durfte Jütte danach aber noch ein ausgedehntes, hoch-virtuoses und entsprechend umjubeltes Schlagzeugsolo zelebrieren.

Als Hommage an Herrmanns anwesende Mutter erklang gegen Ende des kurzweiligen Konzertes noch der Titel „First Date“. Zuvor verarbeitete er in dem eindrucksvollen und eindringlichen Titel „Hambuscht“ über den gleichnamigen Kinderschreck aber noch ein frühes Kindheitstrauma auf einem Äpfinger Bauernhof, bei dem auch eine Spieluhrmelodie eine dominierende Rolle spielte. Danach erklang als Zugabe noch eine stimmungsvolle Komposition von Pat Metheny, „Straight On Red“.

Text und Fotos: Helmut Schönecker