17.10.2008: Paata Demurishvili – Jazzclub Biberach e.V.

17.10.2008: Paata Demurishvili

Paata Demurishvili

Konzert der Sonderklasse vor vollem Haus

Mit einer schlichten Tonrepetition im feinsten Pianissimo, wie aus weiter Ferne, begann eines der ungewöhnlichsten Konzerte der letzten Jahre im Biberacher Jazzkeller. Eine Variation über Johann Sebastian Bachs bekannte Choralbearbeitung „Jesu, meine Freude“ entführte die in Scharen gekommenen Zuhörer in eine fantastische musikalische Parallelwelt, in welcher der barocke Meister noch zu leben schien und als mächtiger Improvisator komplexe polyphone Werke aus dem Stegreif schuf. Versatzstücke aus den verschiedensten Epochen einschließlich des 20. und 21. Jahrhunderts verschmolzen unter dem gestalterischen Zugriff des in Deutschland lebenden georgischen Tastenkünstlers Paata Demurishvili zu einem ebenso ungewöhnlichen wie wunderschönen Konglomerat zeitloser Musik. Gleich darauf öffnete der in Mannheim unterrichtende Klavierprofessor mit Duke Ellingtons „Caravan“ eine neue Seite in seinem Stil-Multiversum. Noch in den leisesten Passagen fein strukturiert und dynamisch binnendifferenziert, begann der Steinway unter dem höchst kantablen Spiel seines Meisters traumhaft zu singen. Er sang von fremden Welten, in denen Flügel wie vielstimmige Symphonieorchester klingen, disparate Stilrichtungen wie Klassik und Jazz sich in dialektischer Synthese zusammenfinden, hektische Mitteleuropäer in relaxter Melancholie versinken und scheinbar so verschiedene kulturelle Welten wie die von Georgien und Deutschland sich im ästhetischen Einklang wieder finden.

Für Verblüffung sorgte zunächst die Ankündigung Demurishvilis, nach der Pause ein Wunschkonzert geben zu wollen. Das Publikum möge bitte seine Wünsche äußern. Aus den eingegangenen Vorschlägen wählte der selbstbewusste Künstler dann acht Nummern aus und improvisierte in einer Weise drauflos, die den Atem stocken ließ. Die deutsche Hymne wurde, von allem überflüssigen Pathos entkleidet, zu einer groovigen Jazznummer mit einem Schuss lateinamerikanischer Rhythmen, die Liedwünsche der georgischen Gäste zu einer feinsinnigen Melange aus Folklore und musikalischem Spaß, das c-Moll Präludium aus dem wohltemperierten Klavier von Bach zu einem sublimen symphonischen Werk genialischer Unerhörtheit. Über der Grundfolie des oft als „Nähmaschinen-Präludium“ geschmähten Klavierstückes brachen immer wieder, stilistischen Eruptionen gleich, anachronistisch kontrastierende Akkordstrukturen hervor, die Bachs virtuose Dreiklangsstudie in einen völlig neuen, ungleich größeren Sinnzusammenhang stellten.  Einer Karikatur gleich erschienen in diesem ungewöhnlichen Opus auch einige Einsprengsel des nach Moll gewendeten berühmten C-Dur-Präludiums von Bach, das Charles Gounod, mit einer eingängigen Melodie versehen, zum Ave Maria „verschlagert“ hat. Klang hier gar so etwas wie augenzwinkernde Selbstkritik über das ungenierte Filetieren „schöner Stellen“ der Musikgeschichte an? Sei’s drum. Es hat eine Menge Spaß gemacht und Standards gesetzt.

Gez. Dr. Helmut Schönecker