„Clairvoyance“ im Jazzkeller
„Hellsichtige“ Jazz-Avantgarde in Biberach
Virtuoses Spiel mit unterschiedlichsten Genres, die souveräne Beherrschung der hohen Schule der Improvisationskunst, differenzierte Arrangements und totale Beherrschung des Instrumentes, gepaart mit einer erfrischend unkonventionellen Herangehensweise ohne Berührungsängste zum jeweiligen Sujet führte Frank Wingolds „Clairvoyance“ beim Jazzkonzert am Freitagabend zu einem dynamischen, kraftvoll zupackenden, abwechslungs- und ideenreichen Modern Jazz, der Kurzweil und Unterhaltung auf hohem Niveau bot. Ohne die aufgeblasene Kraftmeierei des Rock-Jazz-Fusion-Stils, ohne die populistische Unverbindlichkeit des „Crossover“ oder die epigonale Anbiederung an die ganz Großen der internationalen Szene fanden der Komponist und Bandleader (E- und Akustikgitarre), Niels Klein (Saxophon und Klarinetten), Robert Landfermann (Kontrabass) und Jonas Burgwinkel (Drums) einen eigenen „hellsichtigen“ Weg in eine engagierte Avantgarde. In einem kammermusikalisch dichten Jazz für Kenner, zelebriert von echten Könnern ohne den leisesten Hauch akademischer Blässe, spiegelte sich die glaubhafte Suche nach neuen Wegen vor einem progressiven Traditionsverständnis, das folgerichtige Schlüsse aus den Konventionen zieht, ohne sich rückwärts gerichtet in ihnen zu verlieren.
Am fünfsaitigen Kontrabass glänzte Robert Landfermann, der sich bereits 2006 mit der späteren Siegerformation „Mumble Jumble“ beim internationalen Biberacher Jazzpreis dem heimischen Publikum vorstellen konnte. In herzhafter Eindringlichkeit agierte am rotzig frechen Tenor-Saxophon Niels Klein als kongenialer Partner Wingolds, nicht nur in atemberaubenden Improvisationen sondern auch in atemraubenden sportlichen Aktivitäten in Form tausender, rhythmisch präziser Kniebeugen – auch in temporeichen Kompositionen zumeist im Taktabstand. Trotz seinem lebendigen, ausdrucksstarken Saxophon-Sound, war der Griff zur Klarinette eine willkommene Abwechslung. Anders als im Jazz meist üblich, durfte seine Klarinette auch im klassischen Sinne nach Klarinette klingen. Klangliches Highlight wurde die äußerst selten gespielte Kontra-Alt-Klarinette, in der Tonlage noch unterhalb der Bassklarinette angesiedelt, mit ihren satt schmatzenden Tiefen, die, teils im Unisono mit dem Kontrabass, zu ungewöhnlichen Klangmischungen führte.
Einen gewichtigen Beitrag zum homogenen Gesamteindruck steuerte der Drummer Jonas Burgwinkel bei. In präzisem Timing, sensibel begleitend und in entfesselten Soli, sorgte er immer für die nötige Prozessenergie, musikalisch voll integrierter Ideengeber und keineswegs zum bloßen Heizer degradiert.
Mit Titeln wie „Fetish“ oder „Nifty“, vor allem aber mit der im Chaos wurzelnden, sich allmählich konkretisierenden, immer stärker verdichtenden und schließlich wieder in die Gestaltlosigkeit zurück sinkenden Zugabe offenbarte Frank Wingold abschließend nochmal sein künstlerisches Anliegen, Trennendes spielerisch zu verbinden ohne es dabei vollständig einzuschmelzen. Seine unglaubliche instrumentale Virtuosität vermittelt dabei nicht nur zwischen rockigem E-Gitarren- und klassischem Akustik-Gitarrensound sondern schlägt ebenso die ästhetische Brücke zwischen den Stilen. Eine gewisse innere Distanziertheit scheint dabei die Basis für eine Transparenz, die sich noch in den komplexesten Strukturen offenbarte. Bei aller Emotionalität geriet bei Wingold niemals etwas außer Kontrolle. Die Begeisterung des Publikums war dabei leider umgekehrt proportional zur Zahl der Anwesenden. Immerhin fanden die CDs der Band reißenden Absatz.
Gez. Dr. Helmut Schönecker