Internationales Jazzpreisträgerkonzert im Jazzkeller
Síd – Musikalische Geschichten aus der Edda
BIBERACH – Von den ganz Großen der Jazz- und Rockgeschichte kennt man das zur Genüge. Robert Plant von Led Zeppelin etwa ließ letztes Jahr in München seine heftig skandierenden Fans über eine halbe Stunde lang auf sein Erscheinen warten, bevor er mit seinen alten Hits die kreischenden Zuhörer elektrisierte. Die halbe Stunde Verspätung hätte auch „Síd“, die Schweizer Siegerformation des internationalen Biberacher Jazzpreises 2014 mit Frontfrau Rea Dubach, bei ihrem mit langem Atem geplanten Auftritt im Jazzkeller beinahe erreicht. Damit hatten aber die Gemeinsamkeiten auch schon ein Ende.
Statt fiebriger Erwartung war entspanntes Plaudern aus dem an gemütlichen, festlich illuminierten Bistrotischchen sitzenden, überwiegend älteren Publikum zu vernehmen. Statt alter Hits aus den 60er und 70er-Jahren, gab es musikalische Avantgarde des 21. Jahrhunderts in schillernden Farben und komplexen Strukturen auf die Ohren. Anstatt kreischender und tanzender, nach jedem Solo frenetisch applaudierender Zuhörer gab es im ganzen ersten Set nur ein einziges Mal artigen Beifall, ganz klassisch, am Ende. Statt wilder Lightshow und dramaturgisch ausgefeilter Bühnenperformance in glitzerndem Outfit waren nur eine statische Bühnenbeleuchtung und eine mehr als zurückhaltende Körpersprache zumindest der beiden Mitmusiker angesagt. Nach der Pause waren dann allerdings wieder einige Plätze auf den Rängen frei.
„Síd“, bestehend aus Rea Dubach (vocals, guitar, effects), Luzius Schuler (piano, rhodes, moog, effects) und Lukas Rutzen (drums) entschlüsseln „Völuspá“, eine Sage aus der nordischen Mythologie über die Anfänge des Seins über einem „Ginungagap“ (chaotischen Abgrund) aus Eis und Frost. Literarische Texte aus der im 13. Jahrhundert in altisländischer Sprache verfassten „Edda“ fanden im elektronisch vermittelten Rascheln, Rauschen und Rumoren in lautmalerisch wirkendem, durch Effekte verfremdeten Sprachgesang ihren Ausdruck. „Finsternis lag über den Flächen der Tiefe, die Erde war wüst und leer, ohne Form und Gestalt“. So heißt es sinngemäß im Libretto der „Schöpfung“ von Haydn, die ebenfalls im dunklen musikalischen Chaos beginnt und erst nachdem Gott, der Herr das Licht anknipst, in einen hell strahlenden Dur-Akkord mündet. In der frostklirrenden arktischen Nacht der „Edda“ (Urgroßmutter) erwacht schließlich ein tosender Sturm, umarmt von samtener Stille, das Leben in seinem beständigen Werden und Vergehen ist erwacht.
Die Gestaltwerdung der Dubach’schen Genesis vollzog sich „in flüsternden und gehauchten Wellen aus glanzloser Ehrlichkeit“, so die Pressevorankündigung zum Konzert. Und in der Tat gelang es mit minimalem Einsatz musikalischer Mittel und maximalem Einsatz klangtechnischer Verarbeitungsgeräte eine faszinierende Klangwelt zu erschaffen. Ein Kontinuum zwischen statischem Rauschen und harmonischen Klängen, eine rhythmische Bandbreite vom chaotischen Nebeneinander zu spannungsreichen, zupackenden modernen Grooves und eine breite Phalanx von einzelnen Tönen über kurze Motive zu weitgespannten Melodien spiegelte den Weg des werdenden Lebens, von der Vervielfachung der Einfachheit, vom Einzeller zur Krönung der Schöpfung. Nach dem kurzweiligen aber leider auch recht kurzen zweiten Set, ebenfalls aus einem Guss und ohne Unterbrechung dargeboten, gab es eine kurze aber hingebungsvolle Zugabe in „glanzloser Ehrlichkeit“ fast ohne technische Effekte sowie ausgiebige Gelegenheit, CDs zu kaufen oder mit den Künstlern über den tieferen Sinn und die ästhetischen Hintergründe des neuen „Konzeptalbums“ zu reflektieren und zu debattieren.
gez. H. Schönecker