Musikalischer Jahresauftakt nach Maß
Von Odessa über Köln nach New York und zurück
BIBERACH – Feinsinnig und zupackend, transparent und komplex, folkloristisch und artifiziell, virtuos und schlicht – die vermeintlichen Gegensätze fanden im künstlerischen Schwerkraftzentrum des aus Odessa stammenden Duos Tamara Lukasheva (Gesang) und Vadim Neselovskyi (Klavier) beim Auftaktkonzert der neuen Saison des Jazzclubs in überzeugender Weise zusammen. Die beiden Künstler, die heute in Köln und New York leben, spürten gemeinsam den Wegen in ihre alte Heimat am Schwarzen Meer nach, ohne aber deswegen die Verbindung zu ihrer neuen Heimat zu verlieren.
Die vielfach ausgezeichnete ukrainische Sängerin und Komponistin Tamara Lukasheva mit musikalischen Wurzeln im Opernfach fand bereits vor ihrer Übersiedlung nach Deutschland im Jahr 2010 zum Jazz. Aufnahmen mit dem Bundesjazzorchester und der WDR-Bigband, die Gründung ihres eigenen Quartetts, mit dem sie 2017 den neuen deutschen Jazzpreis gewann, sowie weitere innovative Projekte (Gender Balance Band, East Drive) und internationale Preise sind wichtige Stationen ihrer steilen und noch jungen Karriere. Einer ihrer „Entdecker“ war der 10 Jahre ältere Berklee-Professor Vadim Neselovskyi, der sie bei einem Workshop in Odessa auf die richtige Spur brachte. Vor einem Jahr haben die beiden endlich auch als Duo zusammen gefunden und jetzt im Jazzclub Biberach ihre musikalische Visitenkarte abgegeben.
Die gemeinsame CD ist noch in Arbeit, die ersten Kostproben waren aber bereits in der Live-Version zu hören. Das Motto „neue und alte Heimat“ erschien dabei als roter Faden. Eröffnet wurde der Abend mit Neselovskyis Komposition „Get up and go“ von dessen Trio-CD aus dem Jahr 2017. Kraftvoll zupackend, voller melodischer, rhythmischer und harmonischer Raffinesse entfaltete sich eine hochspannende Mischung, deren energisierende Wirkung sofort auch das Publikum in ihren Bann schlug. Die Einbindung der Singstimme Lukashevas ließ dabei die komplexen Strukturen transparent werden, forderte aber auch die Sängerin zu höchster Virtuosität heraus. Gleich der zweite Song „Station Taiga“ führte dann „ans Ende der zivilisierten Welt“, in die unendlichen Weiten des borealen Nadelwaldes im Norden Russlands. Die weitgespannten Melodielinien, ein riesiger Tonumfang, ungewöhnliche Intervallsprünge und eine Klavierstimme, die in einer Dichte, Intensität und Sensibilität wie in romantischen Kunstliedern melodisch eigenständig begleitete, entführten in eine kontrastierende, tiefenentspannte Parallelwelt.
Aus den weiteren Stücken ragten besonders eindrucksvoll zwei Marienkompositionen heraus. Gewissermaßen als Intro wirkte Lukashevas „Ich sehe dich, Maria“, unmittelbar gefolgt von Neselovskyis Version des „Ave Maria“. Diese war strukturell ähnlich angelegt, wie das berühmte „Ave Maria“ von Bach-Gounod. Gebrochene Akkorde im Klavier, jetzt aber reharmonisiert und jazzig eingefärbt, sowie mit der darübergelegten, erfrischend unkonventionellen Singstimme regelrecht gegen den Strich gebürstet, entstand so, mit Respekt vor dem Alten dennoch etwas anregend zeitgenössisch Neues.
Ein mit zeitgemäßem Scatgesang durchsetztes, stark rhythmisch geprägtes avantgardistisches Vokalsolo („Old Houses“) und eine von Neselovsky in verblüffender Virtuosität polyphon kontrapunktierte Bebopnummer (Birdlike) des Trompeters Freddie Hubbard bildeten weitere Höhepunkte. Regelrecht unter die Haut ging dann aber vor allem das Schlussstück des Berklee-Professors „Songs my parents sing“ als Reminiszenz an die alten Lieder der gemeinsamen Heimat, kunstvoll vermischt mit experimentellen Elementen aus der Gegenwart. Nach einer kurzweiligen Zugabe entließ das Duo die inspirierten Besucher in eine winterliche Nacht.
Text: Helmut Schönecker
Fotos: Helmut Schönecker, Wolfgang Volz (erstes Foto in der Galerie)