Tango Sí! – 100 Jahre Piazzolla
Mit Tangos, Milongas und viel Pep heraus aus der kulturellen Depression
BIBERACH – Anlässlich des 100. Geburtstages von Astor Piazzolla legte die multinational besetzte Formation „Tango Sí“ aus Stuttgart auf Einladung von Jazzclub und TSV Risstino am Samstagabend im Biberacher Jazzkeller nach langer Abstinenz in Sachen Live-Musik einen schwungvollen Saisonauftakt nach Maß hin.
Zur Minimierung des coronabedingten Risikos hatten die beiden Vereine kooperiert, zusätzlich gab es für die Band eine Förderung im Rahmen der Initiative „Kunst trotz Abstand“. Das Unwohlsein der Veranstalter darüber, ob das Publikum unter den aktuellen 3G-Regeln das Konzert annehmen würde, erwies sich glücklicherweise als völlig unbegründet. Alle durch das Hygienekonzept freigegebenen Plätze konnten besetzt werden. Gleich zwei Zugaben rundeten das Programm ab und zeugten von der allseitigen Begeisterung.
Dass auch die fünf Musikerinnen und Musiker von „Tango Sí!“ so richtig heiß auf den Publikumskontakt waren, zeigte sich gleich von Beginn an. In der Originalbesetzung von Piazzollas eigener Band, dem „Quintetto“ aus Violine (Christiane Holzenbecher), Bandoneon (Karin Eckstein), Klavier (Sarah Umiger), Gitarre (Israel Vásquez, Mexiko) und Kontrabass (Florian Bony, Frankreich) erklang zur Eröffnung dessen „Concierto para Quinteto“. Voller Leidenschaft, brillant und authentisch interpretiert rissen auch die energiegeladenen Arrangements der folgenden Titel das Publikum mit in den siebten Tangohimmel.
Im Unterschied zum eher schlichten, traditionellen und gut tanzbaren argentinischen Tango prägen bei Piazzolla immer größere Freiheiten den komplexeren und eher konzertanten „Tango Nuevo“. Die musikalische Struktur wurde aufgebrochen, teilweise polyphon und mehrschichtig angelegt, kammermusikalisch anspruchsvoller, hochvirtuos, mit vielen stilistischen und interpretatorischen Freiheiten, mit harmonischen Erweiterungen, die vor allem aus dem Jazz stammten. Piazzolla machte sich als Grenzgänger zwischen der neuen und modernen Musik, dem Jazz seiner Zeit und der tanzbaren Tradition des straff rhythmisierten Tangos einen Namen. Den Tango verstand er dabei nicht nur im engeren Sinn als Tanz, sondern wie seine argentinischen Landsleute als umfassendes Lebensgefühl. Karin Eckstein am sehr feinfühlig gespielten Bandoneon arrangierte im Stile Piazzollas auch die wenigen von seinen Freunden oder Schülern stammenden Stücke des Abends.
Eine gewisse Melancholie oder gar Traurigkeit durchzieht viele Titel Piazzollas. Mit feinem Gespür und trockenem Witz wussten vor allem Karin Eckstein und Christiane Holzenbecher in ihren oft launigen Anmoderationen diese Melancholie in pure Lebensfreude umzudeuten, spielerisch mit virtuoser Eleganz energiegeladene Sehnsucht zu generieren und den tiefgründigen Kompositionen mit großer Leidenschaft neues Leben einzuhauchen.
Neben den „Essentials“ wie „Oblivion“ oder „Libertango“ sowie Tangos, Samba, Walzer und Milongas aus den frühen Jahren Piazzollas fanden sich im Konzertprogramm auch brandneue Titel aus der jüngsten, in den renommierten Bauerstudios in Ludwigsburg produzierten CD „Prepárense“ von „Tango Sí!“, die beim begeisterten Publikum reißenden Absatz fand. Einen vollwertigen Ersatz für die temperamentvolle Livedarbietung in intensiver Interaktion mit einem gut gelaunten Publikum dürfte sie gleichwohl nicht bieten.
Text und Fotos: Helmut Schönecker